Nach „Wie wir denken und lernen“ von Manfred Spitzer und Norbert Herschkowitz
Grundthese: Wir lernen im Alter nicht mehr so schnell, dafür können wir aber auf Ressourcen zugreifen, die diesen Umstand mehr als wettmachen. Dass wir uns jenseits der 70 auf Gedächtnislücken und Verfall einstellen müssen, ist ein Mythos. Denn:
Unser Gehirn entwickelt dich unser ganzes Leben lang
Wir kommen mit einem fertigen Set an Gehirnzellen mit einer groben Struktur auf die Welt. In den ersten 3 Lebensjahren geht es darum, dass sich die Zellen sortieren und Synapsen ausbilden.
Ab ca. 3 Jahren werden wichtige Verbindungen gestützt und ausgebaut, unwichtige eliminiert. In der Jugend erfolgt eine starke Vernetzung, allerdings nur von nahe zusammenliegenden Gehirnregionen. Erwachsene können dann auch weiter entfernte Gehirnregionen mittels langer Nervenbahnen vernetzen, die zunehmend mit einer Myelinschicht ummantelt werden, was sie stärkt und leitungsfähiger macht.
Das ermöglicht, auch nicht unmittelbare Zusammenhänge zu erkennen und kreativ zu denken. Beispiel: Welchen Wein kaufen Sie, wenn Sie ein Chanson von Edith Piaf hören?
Die Myelinisierung von Nervenbahnen erfolgt das ganze Leben hindurch. Dadurch und durch die stetige Vernetzung steigt im Erwachsenalter die mentale Leistungsfähigkeit, unsere Koordination verbessert sich und die Integration von Wissen gelingt uns leichter.
Im Erwachsenenalter sind wir besser in der Lage, Entscheidungen zu treffen und Ziele zu erreichen
Der sogenannte Präfrontaler Cortex ist das Planungszentrum des Gehirns. Für Planungen muss Erfahrungswissen abgerufen und gleichzeitig auf die Zukunft angewendet werden. Vergangenheit und Zukunft sind für das Gehirn quasi identisch, dieselben Gehirnregionen sind aktiv.
Erwachsene haben eine bessere Impulskontrolle (ich darf den Geburtstagskuchen nicht vor der Feier aufessen) als Kinder. Sich etwas vorzunehmen und es auch auszuführen, das gelingt die Jahre hindurch immer besser. Erst zwischen 40 und 60 Jahren sind wir am Höhepunkt, Ziele zu setzen und sie mit Ausdauer zu erreichen. Dank fortschreitender Vernetzung in unserem Gehirn können wir unser Frontalhirn besser ansteuern und unsere Selbstbeherrschung steigern.
Gleichzeitig gewinnen wir ständig an Erfahrung und können so Probleme besser analysieren und zielgerichtet Gegenmaßnahmen entwickeln. Der Pilot Chesley B. Sullenberger, dem es 2009 gelang, einen Airbus 320 auf dem Hudson River, also inmitten des vielbefahrenen Hafen New Yorks, zu wassern, war damals 58 Jahre alt. Alle 155 Personen an Bord überlebten. Diese Notwasserung gilt als fliegerische Meisterleistung, weil Sullenberger und seine Crew in kürzester Zeit mit kühlen Kopf mehrere Entscheidungen zu treffen und eine höchst ungewöhnliche Landung zu meistern hatten, die sie vorher nie geübt hatten. Sullenberger konnte aber auf 20.000 Stunden Flugerfahrungen zurückgreifen und sie erfolgreich anwenden.
Wissenszentren und Gefühlszentren verbinden sich ab ca. 30 Jahren mit zunehmendem Alter. Das macht uns empathischer und befähigt uns, Entscheidungen ganzheitlich (Gefühl + Vernunft + Erfahrung) abzuwägen und selbst bei unvollständigen Informationen gute Entscheidungen zu treffen.
Wir lernen als Erwachsene langsamer, aber nicht schlechter.
Das ist wissenschaftlich gut erforscht. Der Grund: Bei Erwachsenen ist viel Wissen enthalten, das nicht überschrieben werden soll, während bei kleinen Kindern noch viele Leerstellen im Gehirn ausgefüllt werden.
Säuglinge lernen ihre Muttersprache erstaunlich schnell durch bloßes Zuhören. Bei Erwachsenen erfolgt das Lernen einer Sprache anders. Bei Ihnen reicht bloßes Zuhören nicht aus. Sie brauchen Sprachkurse und müssen Vokabeln büffeln. Dafür können sie aber auf viele grammatikalische Strukturen zurückgreifen. Das ermöglicht z.B. das parallele Lernen von verschiedenen Fremdsprachen. Voraussetzung dafür ist allerdings, das bereits in der Kindheit viel gelernt wurde und grundliegende Strukturen im Gehirn ausgebildet wurden.
Mit dem Alter wird das Lernen vielschichtiger. Das ermöglicht, Probleme zu reflektieren, die keine eindeutige Lösung haben. Das Lernen als Erwachsener vollzieht sich in 4 Schritten: Information – Reflektion (was ist der Gehalt der Information) – Relevanz (welche Bedeutung hat die Information für mein Leben, mein Problem) – Umsetzung (Anwendung der reflektierten Information) mit Theoriebildung (Verallgemeinerung) und Praxistest auf Korrektheit der entwickelten Theorie. Dies ermöglicht uns alte Gewohnheiten und Denkmuster zu hinterfragen und auch zu ändern.
Zwischen 40 und 60 Jahren stehen wir gehirnphysiologisch auf dem Höhepunkt
Das Gehirn reagiert besonders auf unerwartete äußere Eindrücke im Laufe des Lebens immer langsamer (ca. 2 Millisekunden langsamer pro Lebensjahr). Den Verlust an Schnelligkeit kompensieren aber die Erfahrungen, die wir gemacht haben. Wir können Neues besser einordnen und besser darauf reagieren. Unsere Hardware wird langsamer, dafür unsere Software effektiver. Zwischen 40 Jahren und 60 Jahren ist die Balance zwischen Informationsverarbeitung und vorhandenem Wissen ideal. Unser Gehirn arbeitet so schnell und effizient wie nie zuvor.
Von der Weisheit der Älteren profitieren alle Generationen
Weisheit bedeutet, bisher unverbundene Erfahrungen zusammenzufügen und zu etwas Neuem und Positivem zu entwickeln. Jüngere profitieren dann von den Älteren. So besetzen viele Firmen ihre Entwicklergruppen altersgemischt. Der positive Einfluss von Großmüttern auf Familien wurde in vielen Studien nachgewiesen.
Normale Alterungsprozesse machen sich im fortgeschrittenen Alter kaum bemerkbar
Unser Gehirn hat 100 Milliarden Nervenzellen. Im Gehirn einer 80jährigen Person sind nur 10% weniger Nervenzellen zu finden als bei jüngeren Menschen. Der Grund für diesen geringen Abbau ist nicht bekannt. Zwar sterben mit dem Altern Nervenzellen ab, doch aus dem Stammzellen im Gehirn werden anscheinend fortwährend neue Neuronen gebildet, die sogar effizienter arbeiten als deren Vorgänger.
Diese Neubildung erfolgt dabei besonders dort, wo es für das Gedächtnis am besten ist: Im „Riechhirn“ und dem „Hippocampus“. Der Hippocampus ist dabei der „Zwischenspeicher“ des Gehirns, in dem Informationen gespeichert werden, bevor sie in das Langzeitgedächtnis transferiert werden.
Leistungseinbußen machen sich erst bemerkbar, wenn 70 bis 80 Prozent eines neuronalen Netzwerks zerstört sind. Die ist aber nur bei Erkrankungen wie Alzheimer oder bei Schlaganfällen der Fall. Ein zunehmender geistiger Zerfall ist kein Naturgesetz. Wichtig ist dabei, nie mit dem Lernen aufzuhören, weil das Gehirn fortwährend neue Nervenzellen und Verknüpfungen ausbildet – freilich etwas langsamer als bei jungen Menschen.
Wir können unser Gedächtnis selbst beeinflussen
Wie wir uns in jüngeren Jahren verhalten, hat Einfluss auf das Altern. Besonders die Selbstkontrolle scheint ein wichtiger Aspekt für gutes Altern zu sein. Wer sich beherrschen und eine positive Grundeinstellung zum Leben entwickeln kann, hat mehr im Alter.
Auch Bewegung und körperliche Fitness machen viel aus. Dabei sind keine Höchstleistungen notwendig. 40-60 Minuten zügiges Gehen pro Tag können die Merk- und Gedächtnisleistungen positiv beeinflussen – wenn es fortgesetzt über Jahre praktiziert wird. Auch sollte man öfter Neues ausprobieren. Eine Studie ergab, dass ein Jonglier-Kurs mit 3 Bällen im Rentenalter zu positiven neuronalen Ergebnissen führt. Die TeilnehmerInnen waren am Ende nicht nur beweglicher, sondern konnten sogar besser sehen und entwickelten insgesamt mehr Freude an der Bewegung. Ähnlich Ergebnisse zeigten auch Untersuchungen zum Thema „Klavierspielen“. Die Probanden übten wöchentlich ca. 3 Stunden. Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Gedächtnis und allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit verbesserten sich nach einiger Zeit messbar.
Es gilt also: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans umso mehr
Ein Besuch Volkshochschule hält Menschen fit und ermöglicht gutes Altern. Was in Spitzner und Herschkowitz aber nur ansatzweise reflektieren, sind die positiven Auswirkungen des gemeinsamen Lernens. Lernen hat immer eine soziale Komponente. In der Volkshochschule lernen Sie zusammen mit anderen Menschen, die Ihre Interessen teilen, mit denen Sie ins Gespräch kommen. Dies wirkt sich ebenfalls positiv auf die kognitive Leistungsfähigkeit und Lebensfreude aus.